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Muss man der Klimaneutralität alles unterordnen?

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Jürgen May von der Nachhaltigkeitsberatung 2bdifferent hat sich in einem Gastbeitrag für den BlachReport mit dem Thema der „Klimaneutralität“ beschäftigt.
Die Nachhaltigkeit liegt voll im Trend. Und keine Frage – Klimaneutralität ist ein wichtiges klimapolitisches Ziel im globalen Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel. Weltkonzerne proklamieren sie bereits jetzt, und Städte rund um den Globus wollen das Ziel bis 2030 erreichen: die Klimaneutralität. Begriffe wie Klimaneutralität, Net Zero oder Klimapositivität sind plötzlich in aller Munde. Von Sportgroßveranstaltungen, Kreuzfahrten, Konsumprodukten bis zu Industrieprozessen: Immer häufiger wird irgendetwas mit Etiketten wie „CO2-neutral“ oder ähnlichen geschmückt (siehe dazu auch eine aktuelle Veröffentlichung in der Zeitschrift brandeins).

Klimaneutralität sei längst ein „Buzzword im fossilen Marketingsumpf“, urteilt Claudia Kemfert, Professorin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Übrigens, Deutschland möchte gar nicht klimaneutral werden! Das Bundes-Klimaschutzgesetz will eine „Treibhausgasneutralität bis 2045“ erreichen. Und die EU will bis 2050 „klimaneutral“ werden.

Fazit: Je genauer man hinschaut, desto komplizierter wird es. Inzwischen gibt es mehr als 30 verschiedene Begriffe und Bedeutungen. Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) fordert bereits ein generelles Verbot der Werbung mit Klimaneutralität. Kritik kommt auch von Seiten der Verbraucherorganisation Foodwatch. Sie fordert ein Verbot irreführender Klimaschutz-Werbung auf Lebensmitteln. Begriffe wie „CO2-neutral“ oder „klimapositiv“ sagten nichts darüber aus, wie klimafreundlich ein Produkt tatsächlich sei, es gehe nur um Greenwashing.

INFO:
Klimaneutralität?
Der Weltklimarat (IPCC) definiert Klimaneutralität als Konzept eines Zustands, in dem menschliche Aktivitäten keine Nettoauswirkung auf das Klimasystem haben. So steht es im IPCC Bericht Global Warming of 1.5 °C. Für den Ausstoß an Treibhausgasen wurden im Rahmen des Kyoto-Protokolls völkerrechtlich verbindliche Zielwerte festgelegt, wobei die Klimawirksamkeit in CO2-Äquivalenten (CO2eq) gemessen wird, mit Kohlenstoffdioxid als Richtgröße, zu der die anderen Treibhausgase wie Methan, Lachgas, Fluorkohlenwasserstoffe, Schwefelhexafluorid entsprechend ihrer Wirksamkeit in Bezug gesetzt werden. Beispielsweise ist Methan 25-mal klimaschädlicher als Kohlendioxid.

Dennoch nutzen beispielsweise einige Verbände dieses Wording in ihren aktuellen Verlautbarungen. Messen, Veranstaltungshäuser, Agenturen, Eventdienstleister und Veranstalter sind überwältigt von den Schlagworten rund um den Nachhaltigkeitsdiskurs. Flugs wurden und werden die Ziele und Strategien zur Klimaneutralität veröffentlicht. Fraglich ist aber das Verständnis aller Beteiligten über die ständig fallenden Begriffe wie „kohlenstoffneutral“, „THG-neutral“ oder „klimaneutral“. Doch was steckt tatsächlich dahinter? Wissen das wirklich alle?

Wie bereits an verschiedenen Stellen diskutiert, stellt sich somit die Frage: Was ist eine klimaneutrale Veranstaltung“? Bislang funktioniert das Prinzip der Klimaneutralität, in dem beispielsweise ein Veranstalter seinen CO2-Ausstoß von einem externen Zertifizierungsunternehmen berechnen lässt und dann die Menge durch Investitionen in Klimaschutzprojekte – meist Aufforstungsprojekte – ausgleicht. Längst sind diese CO2-Kompensationen in die Kritik geraten: Bäumchen um Bäumchen wird gepflanzt, ohne den Hintergrund zu kennen und die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen zu hinterfragen.

Selbst Dietrich Brockhagen, Geschäftsführer von „Atmosfair“, sieht den Baum-Hype kritisch und hat sich komplett gegen Baumprojekte entschieden. „Auch wenn alle freien Flächen auf unserem Planeten heute mit Bäumen bepflanzen würden, würde das nicht einmal 20 Prozent des Klimaproblems lösen. Zudem müssten diese Bäume mindestens bis zum Ende des Jahrhunderts stehen. Kaum eines der Baum-Projekte ist auf so lange Zeiträume ausgelegt“, so Brockhagen.

Damit ist ein winziger Baum-Setzling, den wir bei unserer Event-Kompensation mitfinanzieren, somit oftmals nicht mehr als eine günstige Werbemaßnahme für den Event. Denn die Kosten, um eine Tonne CO2 bei einem Event zu kompensieren, liegen bei allen gängigen Anbietern zwischen 15 und 40 Euro – unabhängig davon, ob CO2 beim Eventprojekt vermieden, reduziert oder es keinerlei Maßnahmen zur CO2-Reduktion gibt. Im Prinzip erst die Umwelt belasten, dann den Schaden ausgleichen lassen: So versprechen es die zahlreichen Anbieter von CO2-Kompensationen. Allerdings geht die Rechnung so nicht auf, denn allein für die Folgekosten der durch die Emissionen verursachten Schäden weist das Umweltbundesamt rund 210 Euro pro Tonne Kohlendioxid aus. Somit würde der Messeauftritt eines Ausstellers mit 1.000 Tonnen CO2 circa 200.000 EUR anstatt der heutigen Ausgleichszahlung von etwa 25.000 EUR betragen.

Noch fragwürdiger wird die Maßnahme vor dem Hintergrund der gemeinsamen Recherche der „Zeit“, der britischen Tageszeitung „The Guardian“ und des britischen Reporterpools „SourceMaterial“. Diese ergaben, dass über Jahre offenbar Millionen CO2-Zertifikate verkauft wurden, die es nicht hätte geben dürfen. Die Recherche lege nach Angaben der Zeit nahe, dass zahlreiche Waldschutzprojekte ihre Kompensation um ein Vielfaches überbewerten, weil die Regeln des wichtigsten Zertifizierers auf dem Markt dies zuließen – und die Aufsicht versagt habe. Sie lasse auch vermuten, dass über 90 Prozent aller Zertifikate wertlos seien.

Auch die Branche der Kompensierer erscheint undurchsichtig. Es gelten keine einheitlichen Standards für CO2-Labels. Anders als bei den staatlich vergebenen Bio- und Öko-Siegeln gibt es keine gesetzlichen Mindeststandards, die Grundlagen für die Berechnung der Emissionen sind nicht einheitlich, sie haben nicht den Status eines offiziellen Klimasiegels und sie werden von privaten Unternehmen vergeben. Viele Siegel-Anbieter machten beispielsweise die Reduktion des CO2-Ausstoßes nicht zur Bedingung oder prüften die Angaben zur Berechnung gar nicht oder nur unzureichend. Vor allem eine verdeckte Recherche der „Zeit“ verdeutlicht, wie die Labels agieren, die Firmen, Produkte und Dienstleistungen für klimaneutral erklären.

Inzwischen beschäftigen sich deutsche Gerichte mit der Legitimation zur Nutzung des Begriffs. Jüngst gewann ein Mainzer Hersteller von Reinigungs- und Pflegemitteln ein Gerichtsverfahren gegen seinen Konkurrenten. Laut dem Urteil des Oberlandesgerichtes Frankfurt, dass dies im Eilverfahren fällte, darf sich der Konkurrent in Teilen seiner Werbung nicht mehr als klimaneutral bezeichnen. Nach Angaben des Klägers entschied das Gericht, dass sich Unternehmen nicht mehr als klimaneutral bezeichnen dürfen, wenn sie bei der Ermittlung des CO2-Fußabdrucks Emissionen ausgeklammert haben. In dem Fall wurden zum Beispiel Emissionen nicht berücksichtigt, die durch die Logistik für Ein- und Ausfuhr und durch Rohstoffe und Verpackungen entstanden. Aus Sicht des Klägers geht die Bedeutung des Urteils weit über den konkret verhandelt Fall hinaus und hat Relevanz für die gesamte Branche in Deutschland.

Die Frage stellt sich, ob die Veranstaltungswirtschaft vor diesem Hintergrund mit ihren Kompensationsmodellen und dem Wording „Klimaneutralität“ auf dem richtigen Weg ist und wie es gelingen kann, eine transparente und somit glaubwürdige Nachhaltigkeitsbetrachtung von Events zu ermöglichen.

Autor: Jürgen May, 2bdifferent / Quelle: BlachReport / Bild: Pixabay

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